45. 100km- Lauf Biel 2003 – oder – die Tropische Nacht der Nächte 

Es ist Sonntag, 15. Juni 2003, 15.30 Uhr. Es ist ein hochsommerlicher Tag – das Thermometer zeigt wie in den vergangenen zwei Wochen 30 Grad! 

Nachdem ich mir die Rangliste vom 100km- Lauf Biel angeschaut habe und den Bericht im Bieler Tagblatt auch gefunden habe, beginne ich mit meinem Bericht. 

Zwei Wochen lang hatten wir nun hochsommerliche Temperaturen, und ich hoffte, daß das Wetter bis Biel so anhalten würde. Was würde das für eine Nacht der Nächte werden – tropisch und mit Vollmond. Cinzia, ich und Eric wünschten uns das von ganzen Herzen. 

Wie in den vergangenen Jahren dachte ich die Woche vor Biel jedesmal um 22.00 Uhr an den Start in Biel und legte ein paar Meditationsminuten ein. Auch wachte ich in der Nacht auf, schaute aus dem Fenster und mahlte mir aus, wo ich wohl zu dieser Uhrzeit sein würde. 

Ich ging in diesem Jahr mit guten Voraussetzungen an den Start. Ich hatte im Vorfeld gut trainieren können, ein paar gute Wettkämpfe gemacht und zum erstenmal keine Knieprobleme gehabt. Das konnte also nur gut laufen.  

Zum erstenmal ging ich mit einer konkreten Zeitvorstellung an den Start. Ich wollte versuchen, um die 10 Stunden zu laufen. Ich wollte versuchen, wie bei den 100km in Endingen 2002, den 5.30er Schnitt so lange es ging zu halten.

Ich hatte mir aber nicht vorstellen können, daß es so schwierig werden sollte. Aber Biel ist ein sehr anspruchsvoller Kurs mit vielen und auch langen Steigungen. Da ist es sehr schwierig, vom Anfang bis zum Schluß das gleiche Tempo zu laufen. 

Diese Nacht der Nächte sollte wieder was Besonderes werden. Es war Freitag der 13. und dazu noch Vollmond!

Wir holen Cinzia um 15.15 im SBB Bahnhof in Basel ab und fahren dann weiter. Dieses Jahr wollen wir nicht durch den Belchentunnel fahren. Das will ich mir einfach nicht antun – stundenlang im Stau zu sitzen. So haben wir gestern Abend beschlossen, bei Liestal rauszufahren und über den Frankensteinpass nach Balsthal zu fahren und von dort wieder auf die Autobahn zu fahren. Die Strecke ist landschaftlich sehr schön und weist wenig Verkehr auf. 

Vor der Ausfahrt Liestal tritt plötzlich Aufregung ein. Eric ist sich nicht sicher, ob er diese Ausfahrt nehmen soll. Ich werfe ihm vor, die Karte nicht richtig studiert zu haben. Wir streiten uns wieder. Ich denke: „nächstes Jahr fahre ich mit dem Zug nach Biel. Schön gemütlich im klimatisierten Wagen.“ Zum Glück tritt schnell wieder gute Laune ein.

Wir fahren durch ein paar ganz hübsche Schweizerdörfer und auch Balsthal ist ganz nett. Gegen 16.30 Uhr kommen wir auch in Kernenried, ca. 55km, an, wo wir unsere Verpflegung deponieren wollen. Wir verstecken unser Cola-Fläschli mit ein paar Leppins hinter der gleichen Hecke wie letztes Jahr. Wir machen noch kurz ein paar Fotos und weiter geht’s nach Biel. 

In Biel treffen wir gegen 17.30 Uhr ein, und da wir diesmal von Süden in die Stadt kommen, müssen wir die ganze Stadt durchqueren.

Jetzt habe ich es satt, diese Autofahrerei Ich will endlich die Eishalle erreichen, meine Startnummer holen und mich auf den Rasen legen. 

Eric läßt uns vor de Eishalle raus und sucht dann einen Parkplatz.. Cinzia und ich begeben uns in die Garderobe, wo wir uns kalt duschen. Bei der Hitze hat uns die Autofahrt doch ein wenig geschafft.

Beim Verlassen der Garderobe begegnen wir Beatrice Bertschi, welche schon zum sechsten Male am Start ist. Wir unterhalten uns kurz. Sie ist dieses Jahr nicht die 50km von Emmental gelaufen, sondern den Winterthur-Marathon.

Nach diesem kurzen Wortwechsel gehen wir uns nachmelden. Es geht sehr schnell und reibungslos. Nachdem wir uns in der Halle ein wenig umgeschaut und sämtliche Ausschreibungen von Laufveranstaltungen gesammelt haben, begeben wir uns mit unseren Liegematten auf den Rasen. Wir suchen uns ein schönes Schattenplätzchen und legen uns hin.  

Rundherum liegen sie, die ULTRAS, und versuchen so gut es geht ein wenig zu schlafen. Eric stößt auch bald zu uns zu. Er hat sein MTB dabei und seine Radklamotten. Cinzia ißt noch ihren Reis zu Ende und ich zwei Scheiben Brot.

Ich habe beschlossen dieses Jahr nach dem Mittagessen nichts mehr zu essen, außer noch eine Banane oder ein Stück Brot. Ich habe Kohlenhydrat-Tee vorbereitet. Das wird sicher reichen. Ich will meinen Magen nicht mehr unnötig belasten und hoffe so weniger Magenprobleme zu kriegen, was mir später auch gelingt. 

Gegen die Magenprobleme habe ich mir auf Rat von Peter Klorer, ein erfahrener und erfolgreicher Ultra aus unserem Verein, Magensaft auf pflanzlicher Basis gekauft. Ich habe für mich und Cinzia ein kleines Fläschchen mit diesen Tropfen und Wasser gefüllt, welche wir zum Lauf mitnehmen. Das Fläschchen paßt gut in unsere Gurttasche. 

Als wir so daliegen kommt Eric und teilt uns mit, er wolle nun doch eine Radvignette lösen und uns durch die Nacht der Nächte begleiten. Eine solche wunderbare Vollmondnacht – die wolle er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Ich gebe ihm den Ratschlag, sich ein paar Stunden hinzulegen, bis die ersten Läufer in den frühen Morgenstunden ankommen. Aber das ist ihm zu langweilig. Er will das Geschehen hautnah miterleben, was ich gut nachvollziehen kann. Schließlich darf er wegen einer Verletzung nicht mitlaufen, also darf er mitfahren, oder?! 

Die Zeit vergeht im Nu, und um 20.30 Uhr brechen wir unser Lager ab. Wir verabschieden uns für den Moment von Eric und begeben uns zu den Garderoben. Hier bereiten sich schon viele Läuferinnen für die tropische Nacht der Nächte vor. 

Heute ziehe ich nur das nötigste an – es ist viel zu heiß. Auf das Neztshirt über dem Top will ich aber nicht verzichten. In der Nacht und bei Eintritt der Müdigkeit kann es schon ein wenig frisch werden. 

Gegen 21.00 Uhr laufen wir uns ein wenig auf dem letzten Kilometer warm. Die letzten 5km sind in diesem Jahr anders als letztes Jahr. Man läuft wieder im Wald den Gleisen entlang und am Schluß durch eine Unterführung. Ich erkläre Cinzia den Streckenverlauf. Auch der Zieleinlauf ist dieses Jahr anders. 

Jedes Jahr gibt’s in Biel ein paar Streckenänderungen und Eric und ich fragen uns, ob die Strecke tatsächlich stimmt.

Ich habe schon auf der Streckenkarte in der Ausschreibung gemerkt - ich studiere die Strecke ganz genau - daß sie im Vergleich zum letzten Jahr einige Abweichungen aufweist.

Seit letztem Jahr gibt’s einen neuen Streckenverantwortlicher, der seine Aufgabe ganz genau macht. Wir gehen also davon aus, daß die Strecke genau vermessen ist. Und ... Biel ist eben Biel ...da muß man immer auf Überraschungen gefaßt sein. 

Um 21.30 Uhr starten die Betreuer auf Ihren Rädern. Sie fahren bis nach Aarberg, wo wir sie dann treffen werden.

Vor dem Start treffen wir wieder unseren Polanski-Man. Wieder mit einem roten T-shirt wie letztes Jahr. Er erkennt uns sofort und sein ganzes Gesicht strahlt. Auch dieses Jahr läßt er sich mit uns fotografieren. 

Am Start sehen wir dann auch Jean Marc und Waldemar, unsere Kollegen vom Emmentallauf, Jörg Fausch, Ursula Alder und Anke Drescher. Die Anke Drescher ist dieses Jahr nicht so gut in Form, will aber trotzdem diese Nacht der Nächte genießen. Sie sagt im Interview, das sei besser, als Zuhause rumzusitzen. Da gebe ich ihr Recht! 

Und jetzt, ca. 10 Minuten vor dem Start machen wir auf Anweisungen des Speakers dreimal la Hola, um uns Läufer gegenseitig anzuspornen. So jetzt nur noch 6, 5, 4, 3, 2, 1 und los! Der Startschuß fällt und wir laufen befreit und erlöst in die Biele-Innenstadt, welche von Tausenden von Zuschauern umsäumt ist.

Cinzia und ich laufen zusammen. Cinzia meint, das Tempo sei zu schnell. Egal, sie läuft einfach mit. Die Zuschauer feuern uns an, und wir freuen uns sehr darüber. Es herrscht eine Bombenstimmung wenn auch nicht zu vergleichen mit letztem Jahr bei der Arteplage.

Nach ca. 7km muß Cinzia schnell in die Büsche, und ich wartete kurz auf sie . Da verliert man praktisch keine Zeit.

In Aarberg herrscht wieder Partystimmung, welche uns beflügelt und zu schnellerem Tempo verleitet. Nach der Unterführung in Aarberg warten schon die vielen Betreuer mit ihren vollbepackten Rädern. 

Eric stößt auch gleich auf uns zu. Er beginnt sofort loszuplaudern, was mir nicht so angenehm ist, denn ich bin tatsächlich ein wenig angespannt.

Ich habe das Gefühl, daß meine Beine nicht ganz so locker sind. Ich habe das Gefühl schwerfällig zu laufen, während neben mir Cinzia wie ein kleines Reh vorwärts hüpft. Bergauf habe ich gar keine Power, aber geradeaus kann ich wieder beschleunigen. Bei Cinzia ist es gerade umgekehrt.

Cinzia freut sich immer über die tolle Vollmondnacht und ist total euphorisch, während ich nicht so intensiv Kenntnis davon nehme.

Ich weiß, daß nach Aarberg eine Steigung folgen wird. Da sagt doch Eric, es gehe nun flach weiter. „Was heißt da flach“ erwidere ich ein wenig gereizt „schau doch wie es dort vorne steigt“. In dem Moment wissen Cinzia und Eric, daß sie mich am besten in Ruhe lassen.

So hält sich Cinzia auch immer ein paar Meter hinter mir. Ab und zu rufe ich:“Ci“ und sie „ja“. So weiß ich, sie ist in meiner Nähe.

Ab der Verpflegung bei 25km trennen sich unsere Wege. Cinzia läßt sich mehr Zeit zum Verpflegen und hat anscheinend beschlossen, Ihr eigenes Tempo zu finden. BRAVO!

Und als ich nach ihr rufe, kommt keine Antwort mehr... 

Die Strecke zwischen 20 und 38km ist dunkel und einsam und eher langweilig. Ich versuche so gut es geht mein Tempo zu halten, ca. 5.40/km. Das schaffe ich auch bis 40km aber dann kommt die Steigung nach Scheunen, ca. 3km, und ich werde langsamer. Es ist nun 2 Uhr morgens vorbei, und es wehte eine leichte Bise. Mit meinem Nastuch trockne ich mir immer meinen Hals und Nacken ab, um mich ja nicht zu erkälten. Wegen der großen Hitze ist man ständig naß am Körper, was gar nicht so angenehm ist. 

Nach dem Aufstieg fährt Eric wieder zu mir hin und ich brauche jetzt das erstemal Cola, weil ich Müdigkeit verspüre. Das tut gut! Ich erkundige mich nach Cinzia und lasse sie grüßen. Er sagt, sie hätte Schmerzen am Gesäß und auch mit Magenproblemen zu kämpfen. Ich sage Eric, er solle sie an unsere Magentröpfchen erinnern, welche wir bei uns tragen.  

Da ich glaube, keinen dunklen Streckenabschnitt mehr bis Kernenried – da hatten wir unsere eigene Verpflegung deponiert – zu finden, gebe ich Eric meine Meglight-Taschenlampe für Cinzia. Denn Cinzia hatte eine winzig kleine Taschenlampe dabei, mit der sie im Ho-Tchi-Min-Pfad nicht weit kommen wird.  

Ich habe noch eine größere Taschenlampe in Kernenried deponiert. Eric fährt noch eine Weile neben mir her, und da wird es stockdunkel. Er gibt mir wieder meine Taschenlampe zurück. Ich sage ihm dann, er könne mich alleine lassen und solle sich doch um Cinzia kümmern, sie hätte ja größere Probleme als ich. 

Ca. bei Km 52 kommt eine größere Kreuzung. Das Schild zeigt nach links aber die Läufer vor mir laufen geradeaus. Also laufe ich denen hinterher.

Man kann sich ja denken, daß man um 3.00 Uhr morgens nicht mehr so klar im Kopf ist...Bei der nächsten Kreuzung ist aber keine Markierung mehr zu sehen. Da wir mir sofort klar, daß wir falsch gelaufen sind. Zum Glück handelt es sich insgesamt nur etwa um 500m. Ich laufe schnell wieder zurück. 

In Kernenried – da hatten wir eben unsere Verpflegung deponiert – nehme ich mein Cola, meine Leppins und meine große Taschenlampe. Die Meglight-Lampe lege ich in Cinzia‘s Verpflegungstüte.  

Nach 5.39 Std. erreiche ich die Verpflegung in Kirchberg. Ich bin tatsächlich 34 Minuten schneller als im letzten Jahr. Juhui!! Ich will versuchen den 6er-Schnitt auf den Ho-Tchi-Min-Pfad zu halten. So werde ich sicher eine Zeit unter 10 Stunden laufen können. Ich fühle mich auch noch recht gut. 

Aber OH SCHRECK, als wir von dem asphaltierten Weg links in den Ho-Tchi-Min-Pfad abbiegen. Wo ist die Emme (Fluss)? Wo ist der breite schöne Weg vom letzten Jahr? Da ist eine Absperrung, und der Pfeil zeigt in Richtung Dickicht, Dschungel, Urwald! Geht es wirklich da lang, dachte ich. Das kann doch nicht wahr sein! Niemand vor mir und niemand hinter mir.

Wenn ich die Zweige und Äste beiseite drücke, dann erkenne ich einen schmalen Pfad. Oje Mineh! Ich kann nur ganz langsam laufen. Es ist sehr steinig, holperig und wurzelig. Ich denke: „pass bloß auf, daß Du nicht umkippst.. sonst gute Nacht! Von hinten höre ich näherkommende Schritte, welche aber auch bald wieder vor mir im Dunkeln verschwinden.  

Neben der Enttäuschung und dem Frust, daß ich unter diesen Bedingungen den 6er-Schnitt niemals halten kann, kommt in mir ein mulmiges Gefühl auf. Was ist, wenn der „Böse Wolf“ mich ins Gebüsch reißt?

Ich denke: „Ach letztes Jahr wahr es so schön zu zweit mit Cinzia durch den Ho-Tchi-Min-Pfad zu laufen. Und jetzt ist es so dunkel, so einsam, so furchterregend und so anstrengend wie noch nie. Ich brauche unbedingt Cola und bleibe stehen, um ein paar Schlücke zu trinken. Verdammt! Ich setze mit dem Fuß voll auf einen großen Stein, und mein rechtes Knie knirscht! Jetzt verfluche ich die Organisatoren. Die haben es ein wenig zu gut mit uns gemeint. Abenteuer hin oder her. 

Ich sehne mich nur nach dem nächsten Verpflegungsposten kurz vor 65km. Aber der kommt und kommt nicht. Endlich, ich höre Musik und Stimmen und sehe auch bald den Verpflegungsstand. Gott sei Dank! Ich muß kurz meine Oberschenkel dehnen, und dann geht’s schon weiter. 

Komisch – dieses Jahr erlebe ich das Erwachen des neuen Tages mit dem Gezwitscher der Vöglein auch nicht so intensiv wie in den vergangenen Jahren. Schade! 

Der zweite Teil des Pfades ist ein bißchen einfacher, und es ist auch heller geworden. Aber durch die Strapazen des ersten Teils, laufe ich hier unbedeutend schneller als vorher.

Jetzt sehe ich schon die 70km-Tafel. Die Betreuer stehen auch schon bereit. Ich schaue auf die Uhr. Oh Schreck! Ich habe 1.10, d.h. 7er-Schnitt, für die 10km gebraucht. Ade Du schöner Traum – das war’s dann wohl.

Aber, ich beginne zu rechnen. Ich kann die letzten 30km im 7er-Schnitt laufen und würde immer noch mit 10.30 Std. eine persönliche Bestzeit laufen. Das gibt mir wieder die nötige Motivation und auch die nötigen Energien. 

Vorne wartet auch schon Eric auf mich. Ich erzähle ihm vom Ho-Tchi-Min-Pfad und erkläre ihm, daß ich einfach nun locker durchlaufen will. Mag nicht mehr aufs „Tempo zu drücken“... 

Ich erkundige mich nach Cinzia. Eric begleitet mich ein Stück und so erreichen wir schnell die Verpflegung bei 76km. Ich kenne die Strecke nun auswendig. Ab da beginnt die lange Steigung nach Gossliwil.  

Ich stoße auf eine Gruppe zu. Zwei Männer und eine Frau. Der eine beginnt sofort zu quatschen. Das nervt mich. Als er mich fragt, woher ich denn komme ...bla bla bla ...mache ich ihm sehr schnell klar, daß mir nicht nach Reden ist. Ich sei müde. Vielleicht am Ziel.

Er hat’s verstanden. Die Gruppe zieht dann auch gleich des lockeren Schrittes an mir vorbei. Die Frau scheint auch noch ganz gut drauf zu sein. Sollen sie doch gehen. Mir auch egal. 

Auf dem Weg nach Gossliwil überholt mich noch eine weitere Frau. Die hatte ich etwa bei 38km mal überholt. Wir begrüßen uns kurz. Ich kann zur Zeit wirklich nicht schneller laufen und will es auch nicht. Ich glaube nicht, daß diese zwei Frauen dieses Tempo bis zum Ziel halten können. Spätestens ab Arch, wenn ich meinen Turbo einschalte, werde ich sie wieder überholen. Also laufe ich locker weiter.

Oben in Gossliwil schießt Eric noch ein paar Fotos. Er will dort auf Cinzia warten. Er soll sie von mir grüßen.

Im untersten steilsten Stück nach Arch überhole ich die eine der beiden Frauen, und auf der Brücke überhole ich dann die zweite Frau, welche in Begleitung eines Mannes läuft. Ich beschleunige beim Überholen ein wenig, so daß sie gar keine Chance hat dranzubleiben.

Ich kann sie aber anfangs nicht so richtig abschütteln. Und, was das Schlimme ist, sie quatscht die ganze Zeit. Hat sie denn noch so große Reserven, frage ich mich? Ich könnte das nicht. Und so lege ich noch einen Zacken drauf. In einer Kurve schiele ich nach hinten. Weg ist sie. Juhui! 

Auf dem Weg nach Pieterlen, ca. 93km, überholt mich eine Frau in rotem Dress. Sie läuft schnell und hat noch Reserven. Nach Pieterlen überhole ich eine weitere Frau. Schon geht’s in den Wald rein und schon bald erscheint auch die 95km-Tafel. Juhui! Bald geschafft! Seit 85km laufe ich knapp unter dem 6er-Schnitt, was mich riesig freut.

Ich habe auf den letzten Kilometern Seitenstechen. Da kommt immer wieder eine kleine Steigung. Erst ab 97km wird es flach. Da kommt mir auch schon Cinzia’s Ehemann, Francesco, entgegen. Ich erkläre ihm, daß Cinzia ca. 30 Minuten hinter mir ist. Es ist ihm unbegreiflich, wie alle Läufer noch so gut aussehen. Unvorstellbar!

Jetzt sehe ich schon die Unterführung. Ich versuche einfach das Tempo zu halten. Mag nicht mehr beschleunigen. Woher soll ich denn die Energie noch nehmen?! Die letzten 2km stoppe ich. Von 98 bis 99km brauche ich 6.22 (unmöglich) und von 99 bis 100 brauche ich 5.19 Min (auch unmöglich). Das ist halt Biel. Irgendwo auf der Strecke gleicht es sich wieder aus. 

Ich sehe schon die Länderflaggen rechts entlang der Zielgerade. Ich nehme meine Brille ab. Will dieses Jahr ein schönes Foto, ohne Brille. Der Fotograf steht auch schon da.

Juhui! Ich habe es geschafft in einer persönlichen Bestzeit von 10.05 Std. Kaum zu glauben. Ich lasse ein paar Schreie los, und die Zuschauer freuen sich mit mir. 

Kaum bin ich durch’s Ziel und will mir den Chip abnehmen, wen sehe ich da? Unseren Polanski-Man. Sofort gratulieren wir uns gegenseitig, und er läßt sich zum zweitenmal mit mir fotografieren. Er spricht weder Englisch noch Italienisch noch Französisch. Ich sage „see you next year in Biel“ und mache eine kreisende Handbewegung. Und er versteht sofort und sagt: „Yes, yes“.  

Es ist schön, wenn man sich jedes Jahr in Biel wiedertrifft. Auch wenn es nur um ein Foto geht oder eine kurze Begrüßung. Ich hoffe, daß wir uns nächstes Jahr wiedersehen. Ich hoffe, daß ich nächstes Jahr auch wieder den Waldemar, den Jean Marc, die Beatrice Bertschi, die Ursula Alder und viele andere Ultras in Biel wiedersehe..  

Ich trinke ein paar Becher am Sponser-Stand und setze mich dann beim Zieleinlauf auf den Rasen. Ich warte auf Cinzia. Da kommt Eric und gratuliert mir. Er sagt, Cinzia werde es unter 11 Stunden schaffen. Bin ich froh!  

Da sehe ich sie. Ich erkenne sie an ihrem lockeren und emsigen Laufstil. Francesco begleitet sie. Ich rufe laut HOPP HOPP unter 11 Stunden. Die Freude ist groß! Ich wußte es, daß Cinzia es zum zweitenmal schaffen würde und zum zweitenmal unter 11 Stunden laufen würde. Sie ist und bleibt ein Lauftalent. 

Das Anfangstempo war für Sie ein wenig zu schnell. Sie hat gelernt, daß man nur auf den eigenen Körper horchen darf und das eigene Tempo laufen darf. Es ist schwierig, zu zweit zu laufen. Wenn ich vielleicht eine Krise verspüre, dann hat sie einen Energieschub, und es ist stressig in solchen Momenten Rücksicht zu nehmen. Kommt noch hinzu, daß ich dieses Jahr eine bestimmte Endzeit laufen wollte, was mich hinderte, mich an Cinzias Tempo anzupassen oder auf sie zu warten.  

Aber nun, da Cinzia den Bieler zweimal unter 11 Stunden gefinished hat, scheint es keinen Traum mehr zu sein, sonder die pure Realität. Sie hat ihre letztjährige Leistung nochmals bestätigt, was ihr mehr Selbstvertrauen und Zuversicht für die weiteren Ultraläufe geben wird... Ja, sie ist wie wir alle vom Ultravirus infiziert und wird so schnell nicht mehr geheilt werden. 

Cinzia und ich holen unsere Medaillen, Urkunde und Finisher-Shirt in der Eishalle ab. Dieses Jahr gibt’s zum erstenmal ein wunderschönes funktionelles Finisher-Shirt. Auch Eric hat eins ergattert. Schließlich hat er uns die ganze Nacht auf dem Bike begleitet. 11 Stunden biken ist auch nicht jederman’s Sache, nicht?! 

Wir duschen, machen uns frisch und legen uns dann noch ein wenig in die Sonne. Gaby Birrer – sie ist schon neunmal Biel gelaufen mit einer Bestzeit um die 8 Stunden – setzt sich zu uns. Wir führen eine nette Unterhaltung und genießen den hochsommerlichen Tag. 

Wir feuern immer wieder die Läufer an, welche jetzt ins Ziel laufen. Sie werden noch bis heute Abend 20.00 Uhr durchs Ziel laufen. Jeder der durchs Ziel läuft, ist ein Sieger. Das erkennt man ganz gut im Gesicht jedes einzelnen Finishers. Die Freude ist groß. Sie wird durch Freudenschreie, Tränen, Saltos und Jubel ausgedrückt.  

Nur wer schon mal die Ziellinie in Biel durchquert hat, kann nachfühlen und spüren, was in einem vorgeht. Man kann es nicht in Worte fassen, man muß es selber erlebt haben! 

Wir machen uns ein wenig wehmütig auf dem Heimweg. Schade! Und schon ist dieses große Abenteuer vorbei. Wir werden wieder ein Jahr davon träumen und uns danach sehnen.  

Wir verabschieden uns von Cinzia und Francesco und treten die Heimfahrt an. Wir wollen auch auf dem Heimweg in Balsthal die Autobahn verlassen und bis Liestal Überland fahren. In Balsthal erfrischen wir uns in einem Gartenrestaurant. Danach suchen wir uns ein nettes Plätzchen am Waldrand, um ums eine Stunde hinzulegen. Die Müdigkeit überfällt uns wie jedes Jahr nach Biel. 

Langsam zieht ein Gewitter heran. Ich denke, an die vielen Läufer, die jetzt noch unterwegs sind. Die werden sicher noch was abbekommen. Aber vielleicht warten sie nur auf diese nasse Erlösung! 

Zuhause angekommen, fühle ich mich ganz gut und packe noch meine Tasche aus. Danach lege ich mich ein wenig hin. Eric bereitet das Abendessen vor.  

Ein wunderschöner und traumhafter Tag neigt sich dem Ende zu.  

Ich werde immer wieder von dieser tropischen Nacht der Nächte träumen, zusammen mit Cinzia und Eric. Ich werde immer wieder von dieser tropischen Nacht der Nächte schwärmen, zusammen mit Cinzia und Eric. Ich werde mich immer wieder nach dieser tropischen Nacht der Nächte sehen, zusammen mit Cinzia und Eric. 

Bald werde ich wieder nachts gegen 22.00 Uhr aus dem Fenster schauen und denken: „In fünf Minuten erfolgt der Start“. Bald werde ich wieder nachts gegen 3.00 Uhr aus dem Fenster schauen und mich fragen: „Wo werde ich wohl jetzt sein?“

Antonia Jucker   Biel, 13.06.03